Wiener Zeitung
KOLONIE DER VERGESSENEN

In einem Spital im Südosten von Nepal werden Leprakranke behandelt. Die offiziell als ausgerottet geltende Krankheit kennt nur eine Zielgruppe: die Ärmsten der Armen.

 

„English?“, frage ich den Fahrer.

„Yes!“, antwortet dieser.

„What is your name?“

„Yes!“

„How many hours to Kathmandu?“

„Yes!“

Gut, seine Englischkenntnisse könnten eventuell noch etwas verbessert werden, aber schließlich finde ich heraus, dass er Kamal heißt. Es wird eine schweigsame Fahrt. Nur ein einziges Mal entkommt ihm ein knappes, emotionsloses „Oh“, als wir beinahe in eine Horde wilder Affen rasen, die hastig die Fahrbahn überquert. Dank seines kriminell anmutenden Fahrstils braucht Kamal keine fünf Stunden für die Strecke, die im Normalfall rund acht Stunden dauert.

Auf dem Weg in das Krankenhaus in der nepalesischen Hauptstadt sterbe ich 193 Tode, einen für jeden Kilometer, den wir seit dem Lepraspital in der südöstlichen Ortschaft Lalgadh zurückgelegt haben. Über den mangelnden Sitzkomfort und die eingeschränkte Beinfreiheit wage ich allerdings nicht zu klagen, denn direkt hinter mir liegt auf einer Pritsche zusammengekauert Ram, ein 16-jähriger Leprapatient. Neben ihm auf dem Boden seine Beinprothese, die der Junge aus Janakpur seit der Amputation seines linken Beins vor einem Jahr trägt. Am Tag zuvor rutschte sein Beinstumpf bei einem falschen Schritt von der Prothese ab und Ram stürzte. Nun liegt er mit einem offenen Oberschenkelbruch im spärlich ausgerüsteten Rettungswagen und wird in ein Lepraspital in Kathmandu überführt, da es in Lalgadh keinen orthopädischen Chirurgen gibt.

Herausragend ist seine Demut: Ram macht keinen Mucks, kein Schluchzen, keine Beschwerde – und das liegt nicht daran, dass er zu sehr damit beschäftigt ist sich festzuklammern. Ram hat sein Schicksal längst akzeptiert und Frieden damit geschlossen. Fahrer Kamal rast über die kurvigen Bergstraßen, sodass Ram im hinteren Teil des Wagens herumschleudert wird. Kamal bremst, Ram fällt erneut und stößt sich den Kopf an der Kante des Medizinschranks. Blut rinnt ihm aus dem Haaransatz am Scheitel. Wie sehr kann ein Mensch eigentlich von Pech verfolgt sein?

Geht es nach der ländlichen, nepalesischen Gesellschaft, sind Leprapatienten „gottverflucht“ und müssen dafür büßen, dass sie in einem früheren Leben etwas Furchtbares gemacht haben. Schließlich steht es so auch in den alten Hinduschriften geschrieben: eine „große Krankheit“, genannt Maharog, wird die Übeltäter überkommen.

Was Ram wohl verbrochen hat, nun so gestraft zu werden? Die restliche Fahrt grüble ich darüber, wie ungerecht die Welt doch ist und durch welche kosmische Glückskonstellation, die einen auf die Zuckerseite des Lebens fallen, während die anderen umso kräftiger in den sauren Apfel beißen müssen? Denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein gesunder, in unprekären Verhältnissen lebender Mensch an Lepra erkrankt, ist in etwa so groß, wie einen Lotto-Sechser zu gewinnen. In Lalgadh versammeln sich diese unglücklichen „Gewinner“. Wie Gespenster schlendern die Patienten die Gänge in der auf Leprakranke spezialisierten Klinik entlang. Alleine oder zu zweit, manche mit Gehstock, andere im Rollstuhl. Still, ziellos, zerbrechlich, gebrandmarkt. In ihren Augen spiegelt sich Unsicherheit und Leere wider.

Diese Reportage wurde 2016 mit dem Anerkennungspreis der Ärztekammer Wien ausgezeichnet.