Sie sind Nomaden, die letzten in ihrer Heimat, einst waren sie ein stolzes Volk. Heute leben die Raute oft von Staatshilfe. Den übrigen Einwohnern Nepals sind sie fremd geworden.
Der Ethnologe
Kurz nach sechs Uhr früh zieht Man Bahadur Shahu nervös an seiner ersten Zigarette, knabbert gleichzeitig an trockenen Kokosnusskeksen und spült sie mit Wasser hinunter. Kumuluswolken hängen bedrohlich am Himmel, als wollten sie jederzeit platzen. In diesem Jahr ist der Monsun verspätet eingetreten, Nepal versinkt im Starkregen. Shahu, ein kleiner Mann mit hoher Stirn und gepflegtem Kurzhaarschnitt, marschiert zu jener Stelle, wo er das Lager der letzten nomadischen Jäger und Sammler Südasiens vermutet – die letzte Etappe einer dreitägigen Odyssee, die den Ethnologen von der Hauptstadt Kathmandu in ein verstecktes Tal in Westnepal geführt hat. In der Nähe des 1500-Seelen-Dorfes Bestada sollen seine Forschungssubjekte lagern: die Raute. Der Lebensraum der Nomaden beschränkt sich auf Westnepals Wälder, die sie seit Jahrhunderten durchstreifen. Darum sind sie ban ko raja, die Könige des Waldes.
Punkt sieben Uhr sticht die Sonne über die bewaldeten Hügel, beginnt ihre Reise über das Tal, durch das sich der Fluss Katti Khola schlängelt. Tiefe Schluchten, an deren Hänge sich Laub- und Nadelbäume krallen. Am Straßenrand trocknen Chilischoten, auf der Fahrbahn kleben zerquetschte Schlangen. Bei einer Abzweigung eine Menschentraube: neugierige Bewohner des nahen Dorfes. Durch ein Dickicht aus Bäumen, Stauden und Sträuchern spähen sie hangabwärts in das Lager der Raute: 144 Menschen, 46 Zelte, einige Ziegen und Hühner, dazwischen verkokelte Feuerstellen, aus denen Rauch aufsteigt. Axtschläge, gefolgt von Blätterrascheln und einem dumpfen Knall. Eine Gruppe junger Männer fällt Bäume, barfüßig und eingehüllt in beige-graues Leinen. Ernste Blicke, verfilzte Haare, auf ihren Köpfen steife, schwarze Hüte ohne Krempen.
„Raute“, ruft der Ethnologe, als hätte er ein Wildtier im Gebüsch erspäht. Seit zwölf Jahren erforscht Shahu die Lebensweise der Nomaden. Außerhalb der Fakultät für Anthropologie an der Tribhuvan-Universität in Kathmandu weiß kaum jemand von ihrer Existenz, der 46-Jährige jedoch fühlt sich mit den Raute verbunden. Bereits zum vierten Mal ist er zur Feldforschung bei dem indigenen Volk, um mehrere Wochen mit ihnen zu verbringen. Shahu möchte ihre Rituale dokumentieren, ihre Kultur verstehen, die sie mit allen Mitteln zu behüten versuchen.
Mit Trippelschritten steigt Shahu hinunter in das Lager. Es riecht nach nassem Laub und fermentiertem Reis. Frauen holen Wasser. Reißen immer wieder Wurzeln aus der Erde, um den Untergrund zu glätten, auf dem die Zelte errichtet wurden. Kinder spielen Fangen mit einer Ziege, schieben einen Stab vor sich her, an dessen Ende sich ein selbst gebasteltes Rad dreht. Am Waldrand fällen einige Männer Bäume, andere hacken Holz, weitere schnitzen koshis daraus, Schüsseln und Truhen. Ein neues Zelt entsteht: Holzpfeiler werden in Löcher gestopft, Querverstrebungen verlegt, Planen und Tücher gespannt.
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